1947 bis 2022 – 75 Jahre Freie Wähler im Gemeinderat der Stadt Winnenden – eine Zusammenfassung

Nach 12-jähriger Naziherrschaft und einem Krieg mit verheerenden Folgen war Deutschland im Frühjahr 1945 von den Alliierten besiegt, verlor weite Teile seiner Ostgebiete und wurde von den Besatzungsmächten in 4 Zonen eingeteilt, in denen sich für die Bevölkerung unter der Kontrolle ihrer neuen Machthaber ein Leben auf der Grundlage einer verordneten Demokratie entwickeln sollte. Die uneingeschränkte gesetzgeberische und richterliche Gewalt war an die Siegermächte übergegangen. Deutschland lag völlig am Boden. Die industrielle Produktion war auf den Nullpunkt gesunken, Hunger und Not grassierten. Von der Einnahme unserer Stadt durch amerikanische Truppen am 20.04.1945 vergingen bis zur ersten Wahl eines Gemeinderates am 27.01.1946 mehr als 9 Monate.
Bis dahin wurde die Stadt von einem Arbeitsausschuss verwaltet, dem mit dem Segen der Besatzungs-macht 12 sogenannte unbelastete Bürger angehörten. Den Vorsitz führte ein von der amerikanischen Militärregierung eingesetzter und wiederholt ausgewechselter Bürgermeister, der mit Hilfe des verbliebenen städtischen Verwaltungspersonals die anstehenden Aufgaben – und diese waren gewaltig – zu meistern hatte.

Alle Kandidaten mussten auf Anordnung der Militärregierung an Eidesstatt erklären, dass sie niemals der NSDAP oder ihren Untergliederungen angehört haben. Bei Falschangaben drohten drastische Strafen.

Wie sehr die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger die erste Gemeinderatswahl 1946 herbeisehnten, zeigte die hohe Wahlbeteiligung von über 90%, ein bis heute bei Kommunalwahlen in Winnenden nie mehr erreichter Wert. Die Wahl erbrachte für die Liste der „Demokratischen Volkspartei und Christlich Sozialen Volkspartei“ einen überwältigenden Erfolg. Sie erreichte 13 von 18 Sitzen. 5 Sitze gingen an den „Demokratisch sozialen Aufbaublock“.

Dieser Gemeinderat durfte jedoch nur knapp 2 Jahre im Amt bleiben, denn die amerikanische Militärregierung verfügte per Erlass in „Württemberg-Baden“, das die heutigen Regierungsbezirke Stuttgart und Karlsruhe umfasste, dass am 07. 12. 1947, also genau heute vor 75 Jahren, Neuwahlen durchzuführen seien. Auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 328 über die Neuwahl der Gemeinderäte und Bürgermeister, Kreistage und Landräte vom 23.10.1947 fanden diese Wahlen statt. Für diese erste verfassungskonforme Wahl nach dem Krieg wurde gleichzeitig festgelegt, das sogenannte rollierende System einzuführen. D.h. die Hälfte der Gemeinderäte mit den höchsten Stimmen wurden auf 6 Jahre, die andere Hälfte auf 3 Jahre gewählt. Gleichzeitig wurde für das gesamte Wahlgebiet eine alte württembergische Spezialität im Wahlrecht, das sogenannte Kumulieren und Panaschieren eingeführt, das sich trotz eines immensen Zeitaufwands bei der Auszählung, bis heute in unserem Bundesland bestens bewährt hat.

Die Geburtsstunde der Freien Wähler – Einzug in den Gemeinderat am 07.12.1947

Bei der Wahl am 07.12.1947 bewarben sich 41 Kandidaten – Frauen waren nicht dabei – auf 4 Listen, um die 18 Sitze:

Die Wählervereinigung Winnenden zog am 07. Dezember 1947 als Gruppe mit 13 Mitgliedern erstmals in den Gemeinderat der Stadt Winnenden ein.  Die Gruppe oder Interessenvereinigung – Fraktionen gab es damals noch nicht im Gemeinderat – setzte sich aus 7 Handwerkern, 4 Landwirten bzw. Weingärtnern, einem kaufmännischen Angestellten und einem Ingenieur zusammen.  Die Kandidaten dieser Wählervereinigung Winnenden sahen sich schon damals als Mitglieder einer rein kommunalen Vereinigung die als Bürger zuallererst den Wiederaufbau und das Wohl ihrer Stadt und ihrer Einwohner im Fokus hatten.

Heute würde man sagen, es war eine basisdemokratische Bürgerinitiative, wahrscheinlich die erste in Winnenden, die die Stadt positiv mitgestalten wollte und die sich die letzten 75 Jahre zu einem festen, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Winnender Kommunalpolitik entwickelte.

Das Wahlergebnis von 1947 und die gewählten Gemeinderäte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Gemeinderat stand damals vor gewaltigen Herausforderungen, galt es doch für die in die Stadt einströmenden Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus Osteuropa Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Betrug die Einwohnerzahl der Stadt am Ende des Krieges noch 5.800 Personen, waren es binnen kurzer Zeit 8.000 Personen, deren Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln und Brennstoffen zu gewährleisten war. Außerdem waren Landwirtschaft und Gewerbe wieder in Gang zu bringen. Im Zentrum des Geschehens stand Stadtrat Franz Hinger in seiner Eigenschaft als stellvertretender Bürgermeister, der gleich mehrfach in die Bresche springen musste, wenn die Besatzungsmacht ein politisches Haar in der Suppe eines vom Gemeinderat eben erst gewählten Bürgermeisters fand.

 

 

 

Franz Hinger

 

 

Erste Frau im Winnender Gemeinderat – Luise Gmelin, Apothekerin

Bei der Gemeinderatswahl am 22. Januar 1951 zog auf der Liste der Freien Wähler mit der Apothekerin Luise Gmelin erstmals eine Frau in den Gemeinderat ein, zu der damaligen Zeit noch keine Selbstverständlichkeit. Auf dem, am 25.09.1954, aufgenommenen Bild ist Frau Luise Gmelin, bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Dr. Dr. h.c. Robert Böhringer, im Gemeinderatssitzungsaal zu sehen.

 

Wahlen 1959 – erstmals trat die CDU mit 5 Kandidaten zur Wahl an

 

Wahlwerbung 1959


Wahlwerbung 1968

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1973 „Große Kreisstadt Winnenden“ – Gemeindegebietsreform und Änderung des Wahlsystems

Die Gemeindegebietsreform warf ihre Schatten voraus. Baden-Württemberg wurde von der Großen Koalition regiert und die politischen Parteien hatten als solche ihr großes Interesse an der Kommunalpolitik entdeckt.  Im November 1971 – Höfen war bereits Teil von Winnenden – wurde erstmals nach dem System der unechten Teilortswahl gewählt.  Die Freien Wähler erreichten bei dieser Wahl insgesamt 11 Mandate.

 1975 – Bildung von Fraktionen im Gemeinderat

 Einschneidende Veränderungen im Wahlsystem ergaben sich bei der ersten „Gesamtstädtischen“ Wahl 1975: Das rollierende System hatte aufgehört zu existieren. Durch die Eingemeindungen kamen neue Wahlbezirke hinzu und die Zahl der Mandate im Gemeinderat erhöhte sich in der nun zur „Großen Kreisstadt“ gewordenen Stadt auf 30. Erstmals bildeten sich im Winnender Gemeinderat Fraktionen und die FWV mit ihrem Fraktionsvorsitzenden Julius Grässer glaubte, entgegen ihrer Tradition, mit dem Zusatz FWV/FDP auf ihrer Bewerberliste es den Parteien nachmachen zu müssen. Dieser Schachzug ging gründlich daneben denn mit nur noch 8 Mandaten und dem Verlust von 3 Mandaten war man der Wahlverlierer und hatte das Wahlziel deutlich verfehlt.  Klarer Sieger war die Liste der CDU/FW mit sage und schreibe 15 Mandaten, die damit die Hälfte aller Stadträte/innen stellte.

Die nachfolgende Grafik zeigt die Ergebnisse der Gemeinderatswahlen der „Großen Kreisstadt Winnenden“ von 1975 bis zur Kommunalwahl im Jahr 2019

Die Betrachtung über zehn Wahltermine hinweg zeigt sehr anschaulich die Trends bei den Wahlergebnissen. Die Stimmenanteile der so genannten Volksparteien sind deutlich geschrumpft. Hatte die SPD als Spitzenwert 1984 von 29,5%, so hat sie sich in den letzten Wahlen zu 13,5% hin entwickelt. Auch die CDU-Fraktion, die 1975 ihr Spitzenergebnis mit 41,8 % aufwies, hat zuletzt nur noch 23,8% erreicht.

Ein Grund für die beiden genannten Entwicklungen ist sicher, dass die ALI seit 1989 im Gemeinderat vertreten ist und 2019 18,3% erringen konnte. Die FDP trat 1984 an und kam auf 1,4%. Ebenso trat in diesem Jahr eine neue Liste mit dem Namen Unabhängige Bürger (UB) an, sie erreichte 3,7% und damit einen Sitz im Gemeinderat. Dies war allerdings ein einmaliges Gastspiel. Seit 2009 ist die FDP im Gemeinderat vertreten und erreichte 2019 mit 14,2% ihr bestes Ergebnis. In den Wahljahren 1994 und 1999 trat eine neue Liste mit dem Namen Freie Wählergemeinschaft Pro Winnenden (FWG) an, die jeweils 7,9% und 7,7% der Stimmen erhielt und mit zwei Gemeinderäten im Gremium vertreten war.

Einen stabilen Sockel im Gemeinderat haben in all den Jahren die Freien Wähler gebildet, die immer regelmäßig zwischen 27% und 30,8% erreicht haben. Prozentual betrachtet haben die Freien Wähler bei der Kommunalwahl 2019 mit 30,2% Prozent der Wählerstimmen das beste Ergebnis aller Listen erreicht und wurden mit 8 Gemeinderatssitzen die stärkste Fraktion. Wir bieten den Wählerinnen und Wählern Kandidaten an, die in der Stadt bekannt und anerkannt sind und die bereit sind, sich ohne Bindung an eine politische Partei im Gemeinderat für die Belange der Bürgerschaft zu engagieren.

 

1980 Fraktionsvorsitzender Horst Layer

 

1980 übernahm Horst Layer den Fraktionsvorsitz von Julius Grässer, der 1983 aus dem Gemeinderat ausschied.

 

 

 

 

1984 Gründung des Vereins – Freie Wählervereinigung Winnenden – FWV

 Bei der Vorbereitung auf die Wahl im Oktober 1984 hatte die FWV vorgesorgt. Bisher mussten die Freien Wähler vor jeder Wahl, im Gegensatz zu den Parteien, Unterstützungsunterschriften einholen, um überhaupt antreten zu können. Um dies zukünftig zu umgehen wurde ein nicht rechtsfähiger Verein „Freie Wählervereinigung Winnenden – FWV“ gegründet und Julius Grässer, der langjährige ehemalige Fraktionsvorsitzende, zum Vorsitzenden gewählt. Dadurch war man auch in der Öffentlichkeit präsenter und wurde als kommunalpolitische Kraft neben den Parteien besser wahrgenommen. Der damals neu gegründete Verein organisiert bis heute für die Fraktion die jeweiligen Kommunalwahlen.

1985 FWV-Fraktion mit 11 Mitgliedern

vlnr.:Frieder Keim, Martin Kirstein, Willi Klöpfer, Horst Layer, Fraktionsvors., Konrad Häußer,

Magnus Bareth, Ursula Hartl, Eugen Plapp, Hermann Andrä, Rosemarie Bader, Ernst Klöpfer

 

1989 Abschaffung der „unechten Teilortswahl“

Letztmals wurde bei der Wahl 1989 nach den Bestimmungen der „unechten Teilortswahl“ ausgezählt. Mit Überhang- und Ausgleichsmandaten hatte der Gemeinderat 37 Mitglieder. Ab 1994 reduzierte sich die Sitzzahl auf 26.

1993 neuer Fraktionsvorsitzender Friedrich Keim und ab 2004 Hans Ilg

 

 

 

 

 

 

 

 

Frieder Keim                                                              Hans Ilg

 

 

Von 1947 bis heute vertraten 73 Frauen und Männer die FWV im Gemeinderat

 In den 75 Jahren unseres Bestehens suchten und fanden wir, die FWV Winnenden, unsere Kandidatinnen und Kandidaten aus der bürgerlichen Mitte in erster Linie bei den selbständigen Unternehmern, Handwerkern, Freiberuflern oder Landwirten und Weingärtnern, später auch bei leitenden Angestellten, Hausfrauen und Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Waren wir in den 1950er Jahren schon stolz darauf, mit der Apothekerin Luise Gmelin, die erste Frau im Gemeinderat präsentieren zu können, legen wir seit Jahren Wert darauf, ein ausgewogenes Verhältnis von Kandidatinnen und Kandidaten der Wählerschaft anzubieten. In den 75 Jahren unseres Bestehens konnten 73 Frauen und Männer, durch das Vertrauen der Bevölkerung, Mandate für die FWV im Gemeinderat der Stadt Winnenden erringen – mit insgesamt 734 Dienstjahren.

 4 Oberbürgermeister und 3 Bürgermeister

Mit vier hauptamtlichen Oberbürgermeistern – Hermann Schwab, Karl-Heinrich Lebherz, Bernhard Fritz, Hartmut Holzwarth – und drei Bürgermeistern – Paul Hug, Norbert Sailer, Jürgen Haas – haben wir in diesen 75 Jahren konstruktiv zusammengearbeitet. Wir haben in unserer Stadt vieles angestoßen, mitgestaltet und mitgetragen. Wir sind stolz auf das Engagement unserer Vorgänger und denken mit Respekt und Dankbarkeit an sie zurück.

FWV heute nach 75 Jahren

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Obere Reihe vlnr.:   Hans Ilg (Fraktionsvorsitzender), Martina Häußer, Erich Pfleiderer, Markus Siegloch

Untere Reihe vlnr.:  Antonio Agazio, Leonie König, Ingrid Hecht-Hatzis, Marie-Christine Sammet

 

Seit der Gemeinderatswahl am 26. Mai 2019 sind wir mit 4 Frauen und 4 Männern im Gemeinderat der Stadt Winnenden vertreten und stellen jetzt die stärkste Fraktion. Sich politisch vor Ort parteiunabhängig und sachorientiert einzubringen und dabei Verantwortung zu übernehmen, gehört bis heute zu den Grundfesten der Freien Wähler. Und Freie Wähler überlassen gerade heute die aktive und nachhaltige Teilnahme am demokratischen und politischen Willensbildungsprozess in den Gemeinden nicht allein den Parteien.

FWV-Grundsätze

Die Freie Wählervereinigung Winnenden engagiert sich ehrenamtlich ausschließlich auf kommunaler Ebene. Mit der bundesweit auftretenden Freien Wähler Partei haben wir nichts zu tun. Der Mittelpunkt unserer Arbeit ist Winnenden mit seinen Bürgerinnen und Bürgern. Wir glauben, dass die Stärke der Freien Wähler in Winnenden in der Vergangenheit und auch in der Zukunft Bürgernähe, Glaubwürdigkeit und Parteiunabhängigkeit ist. Für uns sind Persönlichkeiten wichtiger als Parteibücher. Wir werden auch weiterhin ausschließlich auf kommunaler Ebene arbeiten, d.h.  für uns:  Im Gemeinderat, im Kreistag und im Verband der Region Stuttgart. Wir wollen Kommunalpolitik aktiv mitgestalten und arbeiten gerne für die Stadt und die Region, in der wir leben. Wir übernehmen Verantwortung und sind dankbar für das Vertrauen und die Wertschätzung, die uns die Winnender Bürgerinnen und Bürger entgegenbringen.  Auch in Zukunft werden wir uns mit ganzer Kraft und Leidenschaft für unsere Stadt einsetzen.

Winnenden, den 07. Dezember 2022/ilg

Quellen:

  • Aufzeichnung von Max Mager „Eine kommunalpolitische Rückschau – 1945 bis 1955“
  • Festvortrag von Karl-Heinrich Lebherz, Altoberbürgermeister und Ehrenbürger zum 70-jährigen Jubiläum der FWV
  • Archiv des Vereins der Freien Wählervereinigung Winnenden – FWV
  • Archiv der Stadt Winnenden

Über diesen Link können sie diesen Beitrag als PdF-Datei herunterladen:  75 Jahre FWV Winnenden – 1

 

 

 


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